Linksrum - Woche 3/2017: Wählen und Abstimmen

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Stefan Kellers Bildlegenden: Canton Sentis

Der Journalist und Historiker Stefan Keller hat in seiner Fotosammlung gestöbert, sich erinnert oder recherchiert. Daraus entstanden ist ein wunderbar nostalgischer Buchband. Dem Linksrum stellt Stefan Keller zehn von der Redaktion ausgewählte Bilder samt Legende mit Thurgaubezug zur Verfügung.



Canton Sentis

Auf den Säntis reiste man, als wir Keuchhusten hatten, die Knaben im Blazer und mit gesteppter Dächlikappe, was die Mädchen trugen, weiss ich nicht mehr, nur, dass es sehr kalt war, als wir auf der Terrasse zwischen schreienden Dohlen standen und atmeten. Der Säntis war auch vom Elternhaus aus zu sehen. Wenn er am Sonntagnachmittag näher rückte, legte sich Vater aufs Kanapee und japste: Mi butzt s fascht weg em Föhn.

Richtig heisst der Berg unserer Kindheit ja Sentis, jedenfalls im Thurgau nennt man ihn so. Im 19. Jahrhundert gab es den helvetischen Canton Sentis und eine bekannte appenzellische Zeitung, Der Sentis. Irgendwann muss eine Flurnamenkommission ihn umgetauft haben. Irgendwann wird eine neue Kommission kommen, um ihn zurückzutaufen, doch mein Gewährsmann in Säntis-Fragen, der Maler Anton Bernhardsgrütter aus Hohentannen, hat in seinen bis heute unveröffentlichten literarischen Tagebüchern immer «Sentis» geschrieben, und in Hohentannen war der Alpstein noch viel besser zu sehen als bei uns am Seerücken, glaube ich.

Einmal lebte ich ein paar Jahre in Süddeutschland. Die Verwandten sagten: Willst du noch lange bei diesen Schwaben oben bleiben? So redeten sie schon, als ich in Berlin studierte. Vater sagte: Kannst du nicht mehr Deutsch? Denn ich hatte mich in eine Theologin aus Bodnegg verliebt, meine Sprache passte sich langsam an. Sonntags spazierten wir über Vorderallgäuer Hügel und schauten inniglich auf den - Säntis. Ihn sieht man von jener Seite des Bodensees aus noch besser, und er hat dort eine fast magische Bedeutung. Einmal wollte ich dem Friedensforscher S. aus Herisau erklären, wo die Kartause Ittingen liegt. S. wohnt seit Jahrzehnten in Deutschland. Plötzlich sagte er: Ach so, das ist doch die Stelle, an der ich auf dem Weg nach Frankfurt zum letzten Mal den Säntis sehe.

Die Postkarte von 1919 zeigt das Dorf Berg im Thurgau. Der Säntis liegt im Süden. Auf dem Bild scheint die Sonne von Norden.

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