Linksrum - Woche 47/2016

Bildlegenden

zugespitzt

Stefan Kellers Bildlegenden: Fräulein Walder und ich

Der Journalist und Historiker Stefan Keller hat in seiner Fotosammlung gestöbert, sich erinnert oder recherchiert. Daraus entstanden ist ein wunderbar-nostalgischer Buchband. Dem Linksrum stellt Stefan Keller zehn von der Redaktion ausgewählte Bilder samt Legende mit Thurgaubezug zur Verfügung, welche ab sofort im Zweiwochentakt an dieser Stelle erscheinen.


Fräulein Walder und ich

Ein langes Leben später sass das kleine Mädchen auf dem Bild an unserem Stubentisch: als eindrückliche alte Dame, die mit grösstem Respekt behandelt und als Fräulein angesprochen wurde. Ich sass ihr gegenüber – ungefähr in dem Alter, in dem sie hier abgebildet ist. Die Fotografie habe ich kürzlich im Internet ersteigert. Sie zeigt die Kinder des Bezirksarztes Hermann Walder aus Wängi, Thurgau, um die Wende zum 20. Jahrhundert. Fünfzehn Franken zwanzig zahlte ich dafür, weil noch jemand anders mitgeboten hatte.

Anna Walder, 1894–1986, wollte eigentlich Medizin studieren wie der Vater. Aber bis 1910 nahm die thurgauische Kantonsschule gar keine Mädchen auf – erste Maturandinnen gab es 1919 –, und die Eltern scheinen mit dem Berufswunsch auch nicht glücklich gewesen zu sein. Lieber hätten sie ihre Tochter zur Hausbeamtin ausbilden lassen. Stattdessen wurde sie Berufsberaterin und Vorkämpferin für die Rechte der Frau.

Und so geht eine feministische Karriere auf dem Land: Nach der Sekundarschule ins Welschlandjahr, dann Praxishilfe beim Vater, Abstinenzverpflichtung und Gründung eines Blaukreuzvereins in Wängi, Kurs als Sozialfürsorgerin in Zürich während der Generalstreikzeit 1918, Mitarbeit beim thurgauischen Frauenverein zur Hebung der Sittlichkeit, wo sie zum Beispiel die aus anderen Kantonen ins Frauenfelder Gefängnis abgeschobenen Prostituierten mit Thurgauer Bürgerrecht betreut.
Ab 1922 versieht Anna Walder während vierzig Jahren die neu geschaffene Zentralstelle für weibliche Berufsberatung, eine vom Staat nur spärlich unterstützte Institution, die jungen Frauen, Bürgers- und Bauerntöchtern hilft, gegen alle möglichen Widerstände einen eigenen Beruf zu ergreifen und sich unabhängig von Männern zu qualifizieren. Meine Mutter lernte deshalb Gärtnerin. Sie entwickelte eine derartige Leidenschaft und Ausstrahlung, dass sogar ihre Kinder bis heute an keinem schönen Garten vorbeigehen können, ohne zumindest einen Steckling, eine Samenkapsel zu klauen.

von Stefan Keller

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