Linksrum Abstimmen - Woche 45/2016 |
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Bildlegenden |
Der Journalist und Historiker Stefan Keller hat in seiner Fotosammlung gestöbert, sich erinnert oder recherchiert. Daraus entstanden ist ein wunderbar-nostalgischer Buchband. Dem Linksrum stellt Stefan Keller zehn von der Redaktion ausgewählte Bilder samt Legende mit Thurgaubezug zur Verfügung, welche ab sofort im Zweiwochentakt an dieser Stelle erscheinen.
Dieses Bild von einem gestrengen Herrn nahm ich aus
einem Zürcher Brockenhaus mit, nachdem ich die
Widmung entziffert hatte, die unterschrieben ist mit
«W. F. Bion, Pfr. in Schönholzersweilen».
Schönholzerswilen liegt am Abhang des Nollen, einem der
höchsten Hügel im Kanton Thurgau, nicht weit von dem
Ort, an dem ich aufwuchs. Den Namen Bion kannte ich
aus zwei Gründen: Ein Pfarrer Bion konfirmierte im
19. Jahrhundert einige meiner Vorfahren, beerdigte andere
und taucht so in der Familiengeschichte auf. Ein zweiter
Bion organisierte als Pfarrer in Zürich die ersten Ferienkolonien.
Er schickte Arbeiterkinder aus den ungesunden,
feuchten Stadtwohnungen in die Appenzeller Berge zur
Erholung. Diese Idee fand weltweit Nachahmer. Später
gehörte er zu den Initianten des Zürcher Volkshauses,
das 1911 eröffnet wurde und sofort als Zentrum der Linken
diente.
Pfarrer Bion in Schönholzerswilen hat es ebenfalls in sich.
Er ist der Vater des Ferienkoloniengründers. Im Nebenberuf
war er Journalist für liberale Blätter und gab mit
seinem Bruder, dem Seelsorger meiner Ahnen, den Volksmann
in Bürglen heraus, eine Zeitung, die im Historischen
Lexikon der Schweiz als «linksradikal» bezeichnet wird.
Wenn Wilhelm Friedrich Bion (1797–1862) in den Dorfkirchen
predigte, dann tönte es mitunter so: «Unsere Obrigkeiten
sind Dreckseelen, Hurer und Ehebrecher, Narren
und Trunkenbolde und irreligiöse, einfältige, kraftlose
eigennützige Pinsel»! Als sich Ende 1830 das thurgauische
Volk gegen die konservative Regierung erhob, war Bion
ein gefeierter Redner. Er trat für strikte Gleichheit ein und
forderte schon 1831 das Frauenstimmrecht. Grosse
Empörung löste es aus, als er dann später erklärte, die neue
demokratische Verfassung sei so wichtig wie die Bibel.
Das Porträt hängt jetzt im Treppenhaus vor meiner
Wohnung. Darunter steht handschriftlich der Spruch:
«Wo das Recht ist, da ist Gott! Das ist der Glaube, das der
Trost, das der Eidgenossen Feldgeschrei.» Wo das Recht
ist, da ist Gott? Jedenfalls nicht umgekehrt.
von Stefan Keller
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